Der Reform-Eifer ist ungebrochen. Denn die Lage ist ernst und betrifft mit mittlerweile fast drei Millionen Pflegefällen – und einem nach allen Prognosen starken Anstieg der Zahlen – immer mehr Wähler. „Es sind die jetzt lebenden Eltern oder nahen Verwandten“, erläutert Thomas Adolph vom führenden Vergleichsportal www.gesetzlichekrankenkassen.de die Sachlage. „Wenn sie betroffen sind, verändert sich der Alltag radikal, egal ob es um Besuche im Heim oder die belastende Pflege zu Hause geht, von den entstehenden Kosten ganz zu schweigen.“ Wie der Kassen-Experte ausführt, sind die gestiegenen Pflegeversicherungsbeiträge dagegen nur Peanuts, obwohl diese fast doppelt so hoch ausfallen dürften als anfänglich angekündigt. Folglich wird eher geklotzt als gekleckert, wie Adolph ausführt. „Union und SPD haben die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung in der vergangenen Wahlperiode um über die Hälfte ausgeweitet und dazu zweimal die Beitragssätze erhöht. Jetzt geht es munter weiter“. Letzter Vorstoß ist die Halbierung der Kassenbeiträge für Betriebsrentner. Vorteil für 4,5 bis 5 Millionen wahlberechtigte Betriebsrentner, von den gesetzlichen Krankenkassen mit drei Millionen Euro Mindereinnahmen pro Jahr zu tragen“, stellt der Kassenexperte als einfache Gegenrechnung auf. Dass sich die Politiker stets auf die erklecklichen Überschüsse der Kassen beziehen und diese großzügig unters Wahlvolk verteilen, halten Experten allerdings für bedenklich. Das sei eine Momentaufnahme und maximal die X-beste Möglichkeit, für das Gros der Kassenmitglieder etwas Sinnvolles damit zu bewerkstelligen.
Kaum Nachwuchs
Die Digitalisierung soll’s richten
Zusammen mit den groß angekündigten 13.000 Pflegern fehlen bereits 36.300 Arbeitskräfte in der Altenpflege. Der Pflegemarkt aber wächst seit 2005 mit fast fünf Prozent pro Jahr, berichtet Roland Berger in der Studie „Wachstumsmotor Pflege“. Nach der aktuellen Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren zudem im Jahresdurchschnitt in der Krankenpflege 14.700 Arbeitsstellen unbesetzt. Entlastung aus diesem Bereich ist also nicht zu erwarten. Die Bundesagentur für Arbeit verlinkt daher nicht umsonst mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit, die eine Broschüre über die „Digitalisierung in der Pflege“ herausgegeben hat. Auch die Unternehmensberater von Roland Berger sehen darin einen von fünf identifizierten Erfolgsfaktoren: „Auch im sehr persönlichen Bereich der Pflege kann Digitalisierung zu Qualitätsverbesserungen, Effizienzsteigerungen, höherer Attraktivität für das Personal und zusätzlichen Einnahmeoptionen führen.
Beispielsweise verkürzt ein Aktivitätsmonitoring oder eine Sturzsensorik durch das Auslösen eines Alarms die Reaktionszeiten des Personals, das nicht unmittelbar vor Ort sein muss, um einen bedrohlichen Zustand des Pflegebedürftigen zu erkennen“, heißt es da. „Intelligente Fußböden, die Stürze erkennen, Transpondersysteme, die Türen öffnen, Jalousien, die auf Lichteinfall reagieren, oder automatische Herdabschaltung nach einer festgelegten Zeitspanne sind nur Beispiele aus dem weiten Feld der sogenannten umgebungsunterstützenden Assistenzsysteme“, zählt die Initiative Neue Qualität in der Arbeit auf. Neben der vereinfachten Pflegedokumentation auf Zuruf (also per Diktat während der Betreuung) listet sie mechanische Putzfrauen und fahrerlose Transportroboter auf, die eigenständig Speisen, Wäsche, Abfälle, Medikamente und sterile Materialien ankarren oder Medikamente autonom auffüllen und ausgeben.
Betreuung wird zur Pflegeleistung
Personenkreis der Honorarempfänger wird ausgeweitet
Zufriedenheit geht vor Sparen. Wie das Ärzteblatt berichtet, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Kampf gegen den Pflegenotstand jetzt auch Nichtfachkräfte von der Pflegeversicherung bezahlen lassen. „Wir wollen die Pflege auch für reine Betreuungsdienste öffnen“, sagte Spahn der Passauer Neuen Presse und kündigte eine entsprechende Initiative noch in diesem Monat an. „Damit werden die ausgeweiteten Leistungen zur häuslichen Versorgung aus dem Monopol der Pflegefachkräfte genommen“, sagt Kassenexperte Adolph. Er hält es aber für eine wenig überlegte Notlösung, die Pflege-Experten auf die körperbezogene Pflege zu verweisen und das bequemere Vorlesen, Spazierengehen oder im Haushalt helfen auf andere Anbieter zu packen. „Ohne die weniger anstrengenden aber gleichwohl bezahlten Tätigkeiten steigt zwangsläufig der Stress und die Entpersonalierung in der Körperpflege“, fürchtet Adolph. „Schon weil der vom Arbeitgeber vorgegebene Zeittakt pro Zielperson sich verengt.“ Schöne Neue Welt: Das Szenario einer roboterisierten Grundpflege vom Zähneputzen bis zum Stuhlgang rückt damit ein ganzes Stück näher.
Damit konterkariere Spahn das in der Passauer Neuen Presse formulierte Ziel, dass Pflegebedürftige Zeit und Zuwendung brauchen. Auch das Vorlesen oder die Hilfe im Haushalt muss die Pflegeversicherung bereits heute bezahlen. Kritisch sei zudem die Aussage, dass Bedürftige dann mehr Betreuungsstunden für das gleiche Geld einkaufen könnten. Der Hintergrund: Aktuell ist das Lohnniveau in der Altenpflege eher kümmerlich. Die Konzertierte Aktion will dieses deutlich heben, um diese Tätigkeit künftig attraktiver zu machen.
Der Kassenexperte sieht nebeneinander Lohndumping (mehr Stunden fürs gleiche Geld) und Konkurrenz um „pflegeleichte Kostenquellen“ entstehen, wenn laut Ärzteblatt neuerdings „Fachkräfte mit entsprechender Berufserfahrung, vorzugsweise aus dem Gesundheits- und Sozialbereich wie Altentherapeuten, Ergotherapeuten und Sozialarbeiter, die Leitungsverantwortung für diese Dienste übernehmen.“ Es überfalle ihn ein leichtes Gruseln, wenn einerseits in der Ausbildung drei völlig unterschiedliche Pflegeberufe gleichgeschaltet werden und dann mir nichts, dir nichts eine weitere Berufsvariante als Spezialisierung in der Altenpflege aus dem Nichts geschaffen wird“, sagt Kassenexperte Adolph. Ihm fehlt die Stringenz, wenn Spahn reine Betreuungsdienste einplant, die sich ausschließlich auf häusliche Betreuung und Haushaltshilfe konzentrieren und dann von der sozialen Pflegeversicherung also über die Kassen bezahlen lassen.
Roland Berger Studie Wachstumsmarkt Pflege vom November 2017 (Quelle: www.rolandberger.com)
Die Broschüre Digitalisierung in der Pflege vom Februar 2018 (Quelle: www.inqa.de)
Artikel im Ärzteblatt vom 18. Juli 2018 (Quelle: www.aerzteblatt.de)