Die Entwarnung ist voraussichtlich nicht dauerhaft. Nach dem Ende der langwierigen Koalitionsgespräche, die nach vielen Jahren gemeinsamer Regierung zwangsläufig etwas bizarr anmuten, ist die Umstellung auf eine Bürgerversicherung fürs erste vom Tisch. Der Koalitionsvertrag bedarf jetzt noch der Zustimmung der SPD-Mitglieder. Innerparteilich ist aber häufig die Rede davon, dass „das Ende der Zwei-Klassen-Medizin“ über die Hintertür bereits eingefädelt wurde. „Die demografische Zeitbombe Bürgerversicherung ist also noch nicht vom Tisch“, sagt Thomas Adolph vom führenden Vergleichsportal www.gesetzlichekrankenkassen.de. „Die entsprechenden Formulierungen im Koalitionsvertrag lassen daran leider keinen Zweifel.
So werde auf Seite 99 behauptet: „ Sowohl die ambulante Honorarordnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (EBM), als auch die Gebührenordnung der Privaten Krankenversicherung (GOÄ) müssen reformiert werden.“ Die Koalitionäre leiten daraus einen Regierungsauftrag ab. „Deshalb wollen wir ein modernes Vergütungssystem schaffen, das den Versorgungsbedarf der Bevölkerung und den Stand des medizinischen Fortschritts abbildet.“
Restriktives Sozialgesetzbuch
Eng gefasster Bedarf schließt moderne Luxustherapie aus
Wie der Kassenexperte anmerkt, wird die angestrebte Vereinheitlichung aber bereits vom Paragrafen 12 des Sozialgesetzbuchs 5 (SGB V) ausgebremst: Adolph: „Dort ist eindeutig festgelegt, dass die Kassen-Leistungen nur ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten" Das WANZ-Prinzip (wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig) schließt Leistungen, die medizinisch nicht zwingend notwendig sind, ebenso aus wie solche, die von einer Behörde als unwirtschaftlich eingestuft werden. Adolph: „Dem Gesetzestext zufolge dürfen Versicherte solche Behandlungen nicht beanspruchen, die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ Experten seien daher skeptisch, dass die im Koalitionsvertrag genannte Anpassung an den „Stand des medizinischen Fortschritts“ sich damit vereinbaren lässt. Bereits heute müssen Patienten, die eine neuartige aber noch nicht allgemein etablierte Therapie nutzen wollen, diese aus der eigenen Tasche bezahlen. „Betroffen sind besonders unsere einkommensschwache Patienten, die bereits heute oft systematisch und überproportional zuzahlen müssen, sagt der kritische Allgemeinarzt und Blogger Dr. Thomas Georg Schätzler der Ärztezeitung.
Hauptsache geändert
Koalitionäre legen die Form nicht fest
Laut Koalitionsvertrag bedarf dies sorgfältiger Vorbereitung. „Die Bundesregierung wird dazu auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums eine wissenschaftliche Kommission einsetzen, die bis Ende 2019 unter Berücksichtigung aller hiermit zusammenhängenden medizinischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen Vorschläge vorlegt.“ Ob diese Vorschläge umgesetzt werden, werde erst danach entschieden. Bleibt zu hoffen, dass sich der Widerstand in der Union bis dahin von seiner momentanen Schwäche erholt hat. Nach einer Auswertung des Karlsruher Unternehmens thingsTHINKING, gehen rund 70 Prozent der Vorhaben im Koalitionspapier auf das Parteiprogramm der SPD zurück. Nur 30 Prozent können der Union zugeordnet werden. Diese Ausgründung aus dem Karlsruher Institut für Technologie nutzte dazu künstliche Intelligenz, die nicht die konkrete Wortwahl sondern die eigentliche Bedeutung der Aussage extrahieren kann. „Nach wenigen Sekunden war klar, dass das Bauchgefühl der Presse und Analysten bzgl. des Vertrages durch die Maschine bestätigt wird“, berichtet Geschäftsführer Dr. Mathias Landhäußer. „Die SPD hat deutlich mehr Teile ihres Parteiprogramms im Koalitionsvertrag unterbekommen. Teilweise sind die Punkte zwar anders formuliert, aber sie bedeuten dasselbe.”
Paragraf 12 des Sozialgesetzbuchs 5 (SGB V) (Quelle: www.gesetze-im-internet.de)
SPD erklärt Bürgerversicherung (Quelle: www.aerztezeitung.de)
Pressemitteilung des Instituts thingsTHINKING (Quelle: docs.google.com)